Thomas  Werk

 

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S t I m m e n   i n   d e r   N a c h t

Wie sich das Wasser der Flüsse in den Wolken fängt,
der Wind sie vorantreibt und dasselbe Wasser woanders
lang erwarteter Regen ist, zuerst auf die Blätter fällt, dann
ins Gras und zuletzt in die Erde dringt, so kehren wieder
jene Erinnerungen daran und mit ihnen, wie die schnell
dahin segelnden Vögel, der Schmerz.

So, wie das Schicksal des Menschen in der Welt
unvorhersehbar ist, bald dorthin geworfen, bald alles
verloren und nur manchmal unter günstigem Stern,
Augenblicke nur, entschwindet das Leben, wie ein Traum
von dem nichts bleibt.
Was ist dann der Schlaf in der Nacht, wenn Vergänglichkeit
und nahender Tod uns begleiten und alles Tun nur ein kurzes
Aufblühen, schnell welkend und fallend mit dem ersten Wind?
Was ist die Saat der Liebe dann, vor dem Winter eingegraben
und mit dem Ende des Sommers geerntet?
Worum trauern wir, wenn ohne Kampf die Blätter fallen,
im Sturm der Baum zerbricht, Welle auf Welle folgt und
Schnee fällt und Schnee schmilzt, worum trauern wir da noch? 

WARUM,
wenn der Mond hinter weißen Wolken verborgen,
wenn flieht das Reh in den Wald,
wenn sich das Abendrot senkt,
wenn wechselt die Farbe das Blatt,
wenn sich beugen die Wipfel im Wind,
wenn die Ufer des Meeres gefroren,
wenn wir ununterbrochen daran denken müssen,
wenn kalt die Berge am Morgen,
wenn es leise regnet und unaufhörlich trommelt,
wenn wir nicht schlafen und es dunkel wird,
wenn zu Ende der Weg und wir nicht müde,
WARUM,
wenn wir doch nicht umkehren können?

WARUM,
wenn wir die Antwort nicht finden
oder warten und frieren müssen, solange,
bis sich nur etwas öffnet die Blüte nach langer Nacht?

Wenn wir rufen, wimmern, stumm und ausgesetzt,
weder sehen noch lieben können, nicht gehen
noch ruhig liegen, sondern fortgerissen werden und
nicht ankommen, noch wissen wohin, warum?
Warum sind da Menschen, die im Mondlicht gehen?

WARUM,
wie Fischer in der Nacht das Meer befahren,
die Furcht vor Schritten im Dunkel
und dem Schweigen hinter der Wand,
unverständliches Flüstern,
als ob es geschrieen wird?

Was, haben wir zurückgelassen,
was ist geblieben nach allem
und warum nicht lang genug?

WARUM,
die ganze hindurch und das Dunkel am Tage,
was haben wir vergessen, beim Anblick dahinfließenden
Wassers und das WARUM sind wir aufgebrochen und
jetzt so still geworden, WARUM?
WARUM
warten wir, zwischen dem, was uns trennt und
dem was wir bringen, zwischen langsamem Traum
und verlorenen Stunden, zwischen Abschied und
dem Heimflug der Vögel, zwischen leichtem Nebel
und dem, was schneit in uns?

WARUM,
als sei gar nichts, schleppen wir die Last,
als wären wir allein, unerreichbar und
übermüdet von Sehnsucht und mit der
Traurigkeit dessen, der geht und dem Schmerz
dessen, der bleibt?

WARUM,
gehen wir weiter und kommen nicht zur Ruhe,
unentwegt, streifen Land, Wasser, Luft, graben
die Erde auf, durchbrechen des Himmels Grenzstation,
betreten fremdes Gestirn und plündern es aus;
richten zugrunde unser Leben, halten für wahr,
was Täuschung ist, sehen, ohne die Augen zu schließen,
reden und hören den Sinn biegsamer Zweige nicht oder
empfangen was der Wind hinterläßt, obwohl
Musik ertönt und das Herz ergreifen kann?

WARUM,
wenn wir alles besitzen und es nicht verlieren,
und WARUM, wenn wir es verlassen und WARUM,
wenn wir es wiedersehen;
WARUM,
wenn wir beieinander liegen und WARUM,
wenn es den Hunger stillt;
WARUM,
wenn wir vom Weg abkommen und WARUM,
wenn die Krankheit ist überwunden?

WARUM, wenn die Stimme versagt?

WARUM,
Menschenschatten auf Blütenblättern?
Ist das Herz ein eingeschneiter Berg?
Ist die Hand größer als die Wange?
Und Tod und Leben genau passend?
Das eine durch das andere verlassen?
Gleich zwei verschlungenen Träumen-
unauflösbar, wenn wir daraus erwachen?

WARUM,
daß wir es verwechseln können?
daß wir uns damit trösten?
daß wir es erleiden müssen?
daß dem Leid keine Hilfe wird?
daß es verschwindet, sobald wir es erblicken?
daß tief ist doch das Menschenherz.
daß der Wind durch alles weht,
Lebende und Tote zugleich?

WARUM,
daß wir einander gleichen,
daß wir es teilen,
daß wir es verbergen,
daß wir es rufen,
daß wir darin versinken,
daß wir es erfüllen,
daß wir niederknieen,
daß wir es auf verschiedenen Wegen tun,
daß wir es erwarten,
daß wir es annehmen,
daß wir es verfehlen,
daß wir es berühren,
daß wir es ahnen,
daß wir es zerstören?

WARUM,
daß wir uns nicht verirren?
daß wir uns bewegen?
daß es Berührung ist?
daß es nur Berührung ist?
daß es durch` s Wasser gehen ist?
daß es Schneegestöber ist?
daß es plötzliches Erblinden ist?
daß es langsam am Schmerzlichsten ist?
daß es die Faust um Scherben schließen ist?
daß es die Münder aufeinander pressen ist?
daß die Herzen dabei rückwärts gehen?
daß sie schwerer werden danach?


WARUM,
daß wir nicht dorthin wollen,
wo wir hin gelangen?
daß wir nicht dorthin kommen,
wohin wir treiben?
daß wir uns kaum mehr als streifen in diesem Leben?
daß wir uns ganz vergeblich quälen?

WARUM,
daß die letzte Nacht so bald schon kommt?
daß wir blind gewesen sind?
daß es ohne besonderen Grund geschieht?
daß es aufhören kann?
daß es keine Spuren hinterläßt?
daß es lautlos, wie dampfender Atem ist?
daß der Himmel am Morgen heller wird?
daß die Sterne treten ins Dunkel zurück?
daß das Licht der Sonne uns wachsen läßt?
daß es nicht nötig ist, es zu erwähnen?
daß wir den Wind am leeren Himmel dabei hören?


WARUM,
daß wir nur undeutlich fremde Schmerzen fühlen können,
daß echter Schmerz ins Eingeweide dringt?

© Thomas Werk  ·  1998